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20.09.2019

Kampfmittelsuche: Oranienburg ist Deutschlands erste Modellregion

35 Jahre? 40 Jahre? Mehr? Niemand kann prophezeien, wie lange Oranienburg noch brauchen wird, um als bombenfrei zu gelten. Doch mit der am 1. August gestarteten „Modellregion Kampfmittelsuche“ hat die Generationenaufgabe der Bombensuche nochmals Fahrt aufgenommen. Der Kampfmittelbeseitigungsdienst hat deutschlandweit in keiner Kommune solch weitreichende gesetzliche Kompetenzen wie nun in unserer Stadt.

30. Juli 2019, Treidelweg: Vizekanzler Olaf Scholz stellt sich auf eine der eisernen Spundwände, die noch immer in der Kleingartenanlage „Haveleck“ tief im Boden stecken. Er balanciert auf dem schmalen Grat, schaut ernst und nachdenklich in die bereits grob verfüllte Baugrube und lässt sich schildern, wie es hier noch vor wenigen Wochen aussah. Die Spundwände stabilisierten das klaffende sieben Meter tiefe Loch, auf dessen Grund zwei Weltkriegsbomben mit aktiven chemischen Langzeitzündern lagen. Diese beiden 500-Kilogramm-Geschosse reihen sich zwar bereits als Nummer 206 und 207 in die Liste der seit 1990 erfolgreich neutralisierten Blindgänger in der Stadt ein. Doch noch lässt sich am Treidelweg auch für Olaf Scholz sehr gut erahnen, welch ein gewaltiger Kraft- und Arbeitsaufwand für die Kampfmittelbeseitiger mit der Entschärfung dieser zwei Bomben amerikanischer Bauart verbunden war: Die massive Containerwand bildet ein schützendes Bollwerk zum Oder-Havel-Kanal. Riesige Rohre ragen aus der Erde. Strohballen türmen sich – und überall Sandberge, wo einmal Schrebergartenbesitzer ein trügerisches Gärtnerglück genossen. Sie werden ihre einstige grüne Oase nicht wiedererkannt haben, so ehrlich muss man sein.

Doch die tickenden Zeitbomben unter ihrem Idyll hätten im äußersten Fall irgendwann nicht nur Gärten, sondern auch Menschenleben zerstört. Der Auslösemechanismus der perfiden Sprengkörper verrottet zusehends. „Die Frage ist nicht ob, sondern nur wann die Bomben hochgehen. Wir müssen die Stadt einmal komplett systematisch absuchen, um jede Bombe zu finden“, wird Bürgermeister Alexander Laesicke nicht müde zu betonen. Allerdings hört Stefanie Rose, Dezernentin für Bürgerdienste, in jüngster Zeit immer wieder auch gleichgültige oder entnervte Stimmen aus der Bevölkerung, wonach man die noch vermuteten 260 Fliegerbomben doch einfach lassen sollte, wo sie sind. Schließlich ruhen die Kriegsrelikte seit 70 Jahren tief im weichen Oranienburger Boden, ohne dass sie detoniert wären.

Es gibt für Bomben aber kein Ablaufdatum, keinen Stichtag, ab dem sie als unschädlich gelten können. Vier Meter tiefe Krater hätten die Bomben im Treidelweg gerissen, schätzt Sprengmeister André Müller vom Kampfmittelbeseitigungsdienst (KMBD). Fünf spontane Selbstdetonationen hat es bereits seit dem Ende des Krieges in der Stadt gegeben: 1977, 1981, 1982, 1991, 1993. Ob es die einzigen Selbstdetonationen bleiben werden, hängt davon ab, wie schnell die restlichen Blindgänger gefunden und unschädlich gemacht werden können. „Es geht nicht um Panikmache, es geht um Aufklärung“, stellt Alexander Laesicke klar. Dass sich nun der Vizekanzler und zugleich Bundesminister der Finanzen Olaf Scholz ein Bild von der Räumstelle am Treidelweg machte, zeigt, dass das für die Stadt immer drängender werdende Thema der Kampfmittelbeseitigung endlich ganz oben in der Politik angekommen ist. Künftig werden das Land und der Bund Oranienburg bei der Beseitigung der Bombenlast unterstützen. Mit dem deutschlandweit einmaligen Pilotprojekt „Modellregion Kampfmittelsuche“ sind viele Neuregelungen für den landeseigenen Kampfmittelbeseitigungsdienst verbunden.

Er wird, zunächst für die kommenden drei Jahre, in Oranienburg als sogenannte Sonderordnungsbehörde tätig. Konkret bedeutet das: Dem KMBD werden in der Havelstadt per Gesetz mehr Befugnisse übertragen. Mit Blick auf die Modellregion Oranienburg erhält der KMBD insgesamt 13 zusätzliche Stellen – sowohl für Oranienburg als auch für die Verwaltung in Wünsdorf. Auch eine millionenschwere finanzielle Aufstockung ist für den Räumdienst vorgesehen. Zudem hat das Team um Sprengmeister André Müller eine geräumigere Außenstelle in der Hans-Grade-Straße bezogen. So gut aufgestellt, sollen die Blindgängersuche und deren Räumung in Oranienburg beschleunigt, soll die Zusammenarbeit zwischen Stadt, Land und Kreis noch enger werden. Im Ergebnis könnten also brachliegende Flächen schneller bebaut werden.

Für Oranienburger Grundstücksbesitzer ändert sich ebenfalls etwas: Nur noch der KMBD darf den Bescheid zur kampfmittelbezogenen Baufreiheit erteilen. Bei eigenfinanzierten Kampfmittelsuchen durch gewerbliche Firmen gibt ausschließlich der KMBD das angewandte Suchverfahren frei, um sicherzustellen, dass die Sondierungen fachgerecht erfolgen.

Die Modellregion wird die Kampfmittelsuche in Oranienburg voranbringen – ein Meilenstein, dem ein langer und steiniger Weg für die Stadt vorausging. Denn der Bund zahlte bisher nicht für die Beseitigung „reichsfremder“ Bomben. Doch deutsche Bomben sind nicht Oranienburgs Schicksalsproblem. Nirgendwo sonst im Bundesgebiet liegen so viele alliierte Blindgänger mit chemischem Langzeitzünder im Boden. „Wir waren schlicht ein Exot und hatten lange keine Lobby. Das ist eine viel zu große Belastung für eine einzelne Kommune. Die Entwicklung in jüngster Zeit zeigt, dass wir nun aber sehr, sehr ernst genommen und auch entlastet werden“, ist der Bürgermeister erleichtert.

Gleichwohl wird es nun nicht im Wochentakt Entschärfungen und Sperrkreise geben, erklärt Stefanie Rose. Denn die Bombensuche wird immer komplexer. Die noch ausstehenden Verdachtspunkte lassen sich nicht mehr so schnell und unkompliziert abklären. Sie liegen beispielsweise sehr tief, in kontaminierter Erde oder auf bebauten Flächen. Zufallsfunde bei Bauarbeiten werden immer seltener. „Das Entschärfen geht meist schnell. Das Freilegen der Bomben ist mittlerweile die viel größere Herausforderung“, berichtet die Dezernentin. Der betriebene immense Aufwand, um die Bomben am Treidelweg entschärfen zu können, ist bereits ein eindrucksvolles Beispiel dieser Entwicklung. Doch eine Alternative gibt es nicht. Gras drüber wachsen zu lassen ist keine Lösung – sie war es nicht für die Bomben in den Schrebergärten im Treidelweg und sie ist es auch nicht für die noch vermuteten mehr als 260 Blindgänger in Oranienburger Erde.

Wer zahlt was bei der Bombenbeseitigung?

BUND

Für die Jahre 2020 und 2021stehen jeweils 14 Millionen Euro zur Räumung alliierter Kampfmittel bereit. Der Bund übernimmt bis zur Hälfte der Kosten des Landes für die Beseitigung der Munition.

LAND

Seit 1991 sind mehr als 400 Millionen Euro in die Kampfmittelbeseitigung geflossen. Jährlich kommt etwa die Hälfte der Landesmittel in Oranienburg zum Einsatz.

STADT

4 Millionen Euro stellt die Stadt jährlich in den Haushalt für die systematische Kampfmittelsuche ein. Oranienburg trägt bei Entschärfungen die Kosten für Vorarbeiten, etwa die Schaffung einer wasserfreien Bergegrube sowie für die Wiederherstellung von Straßen, Wegen und Flächen. 

PRIVATPERSONEN

Wer ein Grundstück in Oranienburg bebauen möchte, das noch im Kampfmittelverdacht steht und noch nicht für die systematische Kampfmittelsuche vorgesehen ist, kann beim KMBD einen Antrag auf Suche stellen.