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26.03.2019

Einzigartig: Forschungsobjekt Gartenstraße 4

In Fachkreisen könnte die Oranienburger Adresse »Gartenstraße 4« zum geflügelten Wort werden – dafür, wie Integration durch gemeinsames Wohnen und Leben zu einem Erfolgskonzept werden kann. Die städtische Wohnungsbaugesellschaft Oranienburg (WOBA) hat in der Altstadt mit einem auffälligen Neubau sowohl architektonisch als auch konzeptionell Mut zur Lücke bewiesen. »Bundesweit gibt es kein vergleichbares Projekt«, sagt Prof. Dr. Christine Hannemann.

Sie muss es wissen. Die Soziologin erforscht an der Universität Stuttgart integrative Wohnkonzepte mit Zuwanderern. Ein eigens errichtetes Haus, in dem sich sowohl einheimische Geringverdiener als auch Flüchtlinge mit anerkannter Aufenthaltserlaubnis wohlfühlen können, wo es einen großen gemütlichen Gemeinschaftsbereich samt Küche und kleinem Garten gibt und ein Sozialarbeiter täglich vor Ort ist – das alles passt perfekt in das vom Bund geförderte Forschungsprojekt »Zusammenhalt braucht Räume«.

Deutschlandweit untersucht die Wissenschaftlerin mit ihrem Team sechs unterschiedliche integrative Pionierprojekte, fragt danach, was gut funktioniert und was eben nicht. Oranienburg ist eines der Forschungsobjekte – das einzige in Ostdeutschland und das einzige in ganz Deutschland, wo eine kommunale Wohnungsbaugesellschaft selbst als Bauherr eines integrativen Hauses auftritt. Prof. Dr. Christine Hannemann hat lange nach solch einem Fall gesucht.

Nun sitzt sie im Büro von WOBA-Geschäftsführer Bernd Jarczewski und hat viele Fragen. Etwa: Wie kommt eine Wohnungsbaugesellschaft auf die Idee, so ein Modellprojekt selbst zu stemmen? Hier ist Bernd Jarczewski in seinem Element. Einerseits treibt es ihn, der Herr über rund 3 700 Wohnungen im Stadtgebiet ist, seit Jahren um, warum es heutzutage so schwer ist, ein Gemeinschaftsgefühl unter den Mietparteien wachsen zu lassen: »Früher ging das doch auch.« Anderseits weiß er auch, dass Einraum-Wohnungen aufgrund steigender Mieten immer gefragter werden: »Wir haben eben nicht nur gut situierte Menschen.« Da wäre dann wieder sein Dilemma. Doch: »Wer alleine wohnt, der lebt ja nicht allein«, sagt Prof. Dr. Christine Hannemann. Es braucht lediglich Orte, an denen Begegnung möglich wird, an denen aus Einsamkeit Gemeinsamkeit werden kann. Bernd Jarczewski nickt eifrig.

Zahlreiche Wohnmodelle unter dem Motto »Gemeinsam  wohnen – gemeinsam  leben« hat er sich angesehen, vor allem in Wien und in den Niederlanden. Mit dem Zustrom der Flüchtlinge, dem fehlenden Wohnraum für diese überwiegend allein ins Land gereisten jungen Männer war für ihn die Stunde gekommen, ein integratives Wohnprojekt in die Tat umzusetzen – ganz ohne Fördermittel vom Land oder Bund. Dann ging alles ganz schnell: Um möglichst kostengünstig zu bleiben, wurde in der Gartenstraße innerhalb eines Jahres ein Haus mit sogenannten Laubengängen errichtet. Alle Haustüren sind als Außentüren konzipiert. Das Gebäude ist damit auch ein architektonisches Experiment für die WOBA, denn bis dato gab es diese Bauweise bei der Gesellschaft nicht.

Im April 2018 zogen die ersten Bewohner in die 22 Ein- bis Dreiraum-Wohnungen in günstiger Modulbauweise ein. Mehr als 200 Interessierte hatten im Vorfeld die Gartenstraße 4 besichtigt. Das Haus ist heute vollvermietet, die Fluktuation gleich null. Ein Drittel der insgesamt 50 Bewohner sind geflüchtete Zuwanderer vor allem aus Syrien. Die restliche Mieterschaft setzt sich aus Familien, Alleinerziehenden, Alleinstehenden, jungen wie alten Oranienburgern mit geringem Einkommen zusammen.

Dass dieses Konzept kein Selbstläufer wird, war allen Beteiligten klar. Natürlich gibt es mitunter auch Reibungspunkte: verdreckte Gemeinschaftswaschmaschinen, nächtlicher Lärm oder zu laute Musik. Wo Klingelschilder mit Namen wie Müller, Mohammed und Märkischer Sozialverein auf eine kulturell vielfältige Mieterschaft schließen lassen, braucht es aber auch Menschen, die bereit sind, fremde Gepflogenheiten nicht nur zu tolerieren, sondern sich dafür zu interessieren. »Wir üben hier Integration mit allen Parteien«, betont der WOBA-Chef und ist überzeugt: Um tatsächlich ein Wir-Gefühl zu entwickeln, »braucht es jemanden, der das in die Hand nimmt.«

Wo sein Zuständigkeitsbereich endet, beginnt deshalb die Arbeit für Guido Allert. Der Sozialarbeiter vom Märkischen Sozialverein will Hilfe zur Selbsthilfe leisten: »Jeder bringt hier sein Päckchen mit.« Er kümmert sich um die Hausaufgabenbetreuung genauso wie um Deutschkurse, Ämtergänge und Stricknachmittage. Vor allem aber redet er: »Durch Gespräche haben wir schon ganz viel erreichen können und Druck rausgenommen. Zudem erziehen sich die Bewohner gegenseitig.« Ramona Ladewig lebt in der Gartenstraße 4 und kann aus eigener Erfahrung bestätigen: »Ich erfahre viel Hilfe. Und was ich geben kann, das gebe ich auch. Das ist schon das richtige Konzept.« So näht sie etwa einer Nachbarin die Gardine, ein anderer Bewohner fährt sie dafür zum Arzt.

70 bis 80 Prozent der Bewohnerschaft trifft Guido Allert mittlerweile regelmäßig im Gemeinschaftsraum, der eher einem Wohnzimmer gleicht. Alles blitzt und blinkt hier vor Sauberkeit. Es gibt eine Kinderecke, Gitarren liegen auf der Couch, ein halb fertiges Puzzle wartet auf dem Tisch auf seine Vollendung. Nur einige Broschüren zeugen davon, dass dies keine normale Wohnung ist. Der Treffpunkt zahlt sich bereits aus: „Wer mehr Zeit im Gemeinschaftsraum als in der eigenen Wohnung verbringt, vereinsamt nicht. Die Alternative ist sonst oft nur der Fernseher, der Tag und Nacht läuft«, weiß Allert. Ramona Ladewig pflichtet ihm bei: »Ich habe hier nach 30 Jahren endlich ein Zuhause gefunden, nicht nur eine Wohnung. Früher hatte ich kaum Kontakte.« Dies ist Wasser auf die Mühlen von Bernd Jarczewski.

Der von der WOBA finanzierte Sozialarbeiter sollte zunächst lediglich ein Jahr lang Impulse setzen, bis sich eine gut funktionierende Haus-Gemeinschaft gebildet hat. Nun wird Guido Allert wohl noch ein, vielleicht zwei Jahre Ansprechpartner für alle Fragen und Nöte der Mieter bleiben, schätzt der WOBA-Chef. Die Professorin hält fünf Jahre für realistisch. Ramona Ladewig sagt: »Wenn Guido nicht da ist, entsteht ein Loch.«

Prof. Dr. Christine Hannemann steht nun erstmals mit Bernd Jarczewski vor dem grauen Sichtbeton-Flachbau mit seinen roten Geländern. »Das ist wirklich toll!«, sagt sie beindruckt und meint sowohl das Konzept als auch die Architektur des Hauses. »Wat is toll? Nee, dat is nich toll! Wenn wenigstens Farbe an der Wand wäre«, schallt es missmutig aus dem ersten Stock. Ja, die Optik des Hauses ist besonders. So wie das Wohnprojekt auch, in dem zwar alle in ihren eigenen vier Wänden, aber eben doch unter einem Dach gemeinsam leben sollen. Ob dieses Konzept tatsächlich zu einem langfristigen Erfolg wird? Die Wohnsoziologin ist zuversichtlich. Sie wird wiederkommen, die Bewohner befragen und auch dafür werben, dass es keine Farbe an der Fassade braucht. Denn das Bunte, die Vielfalt – das machen genau die Menschen aus, die hinter den 22 Türen leben.